Haushaltsauflösung

Haushaltsauflösung

Wir stehen vor der Haustür mit einem uns unbekannten Schlüssel und betreten das Haus, wie wir schon viele ähnliche Häuser oder Wohnungen zuvor betreten haben. Fast immer riecht es etwas muffig und staubig, meist wurde eine Weile weder gelüftet noch beheizt. Wir betreten ein fremdes Leben, gewissermaßen. Im Flur ein Schlüsselbrett voller Schlüssel, eine Fußmatte, eine Garderobe mit einigen Jacken. Im Wohnzimmer Bilder an den Wänden, ein Vitrinenschrank voller Gläser, auf dem Sofa akkurat platzierte Kissen. Latent vertrocknete Zimmerpflanzen auf dem Fensterbrett, im Wohnzimmer genauso wie in der Küche.

Die Gedanken sind irgendwie immer dieselben: Hier hat bis vor Kurzem jemand gewohnt, oft sein ganzes Leben hier verbracht. Manchmal finden sich noch Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände von einem längst verstorbenen Partner, manchmal sind Lücken in der Einrichtung. Dinge, die die Person mitgenommen hat, ins Seniorenheim. Oder Dinge, die schon von Hinterbliebenen verkauft wurden, selbst mitgenommen oder an Verwandte weitergegeben.
Was alle diese Häuser und Wohnungen gemeinsam haben: In absehbarer Zeit werden sie leer sein. Komplett. Neue Bewohner werden einziehen, vermutlich komplett renovieren und die Räume mit ihrem eigenen Leben füllen. Was also jetzt noch übrig ist, ist eigentlich zur Entsorgung bestimmt. Meist wird ein großer Container bestellt und innerhalb weniger Tage ist alles weg. Porzellan, Bücher, Bettwäsche, Möbel, Teppiche, Hygieneartikel, Fotoalben, VHS-Kassetten. Alles wird entsorgt.

Das ist genau der Grund, warum wir hier sind.

Meine Mutter hat eine Liste dabei, ich nur persönliche Wünsche und Gedanken.
Wann immer wir ein solches Haus, eine Wohnung betreten, fragen wir vorher herum: Brauchst du was? Meine Mutter betreut alte Menschen, Behinderte. Viele davon sehr arm, leben von Sozialhilfe und können ihr Leben allein nicht organisieren. Während ich also nur überlege, was ich persönlich brauche (ein paar schöne Teller, ein paar Gläser, Zimmerpflanzen, vielleicht einen Beistelltisch für eine Bekannte oder Gänse für die Schwägerin), hat sie ihre Liste:
Der Sessel ist noch schön, den könnte Frau Eichhörnchen* gebrauchen. Herr Dachs braucht dringend ein neues Oberbett, ist das hier noch zu gebrauchen? Familie Hummel hat kaum Handtücher, wie sieht es hier aus? Herr Fuchs bräuchte einen Wäscheständer und vielleicht ein paar Kleiderbügel. Im Keller steht eine intakte Waschmaschine, sofort wird überlegt: War nicht die von Frau Hase kaputt? Hier liegt ein Stapel orignialverpackter Herrenhemden im Schrank: Wer könnte die noch gebrauchen? Das Sofa ist so gut wie neu: Wäre nicht das Ehepaar Amsel vielleicht glücklich, das alte, fleckige Sofa austauschen zu können? Oh, das Pflegebett gehört nicht der Krankenkasse! Das kann Herr Meise doch sehr gut gebrauchen, er kann sich kaum bewegen. So geht das weiter. Alle Menschen, die ihr einfallen, werden mit Alltagsgegenständen versorgt. Gegenstände, die man natürlich auch kaufen könnte, theoretisch. Praktisch ist das für viele dieser Menschen nicht machbar.

Einzelschicksale:
Hier ein drogensüchtiger Verwandter, der die Sozialhilfe kassiert, nein, die Mutter gibt natürlich freiwillig, da kann man nichts machen.
Da eine Person, die nicht lesen und schreiben kann und deshalb die entsprechenden Anträge verschusselt hat. Die sich geschämt hat und zu spät Hilfe gesucht, sodass die Bearbeitungszeit für die neue Waschmaschine sich hinzieht.
Hier ein alter Mensch, der private Versicherungen abgeschlossen hat in dem Glauben, im Alter genug Geld zu haben und der nun feststellen musste, dass die Krankenkasse sich aus der Affäre zieht und nun doch für nichts Geld da ist.
Dort eine geistig behinderte Person, deren Wohnheimzimmer recht kahl aussieht, weil die Familie kein Geld für gemütliche Einrichtung übrig hat.

Natürlich ist da irgendwie immer der Wunsch zu helfen. Da muss doch irgendwas zu machen sein. Aber die langjährige Erfahrung zeigt: Jede Form von Hilfe braucht erstmal zwei Dinge: Erstens den Willen der betroffenen Person und zweitens Zeit.
Ersteres scheitert oft an Krankheiten. Depressionen, Angstattacken, kognitive Einschränkungen. Zweiteres… nunja. Theoretisch hat Oma Buntspecht natürlich Zeit, auf ihren neuen Elektroherd zu warten. Praktisch kann sie sich so lange nichts Warmes kochen und hat kein Geld, um auswärts zu essen. Und ganz praktisch ist es erstaunlich, in welch widrigen Umständen Menschen sich einrichten können, wenn sie nicht wissen, wie diese zu ändern wären.

Also gibt es hier die pragmatische Lösung: Umverteilen. Was vom einen nicht mehr gebraucht wird und entsorgt werden soll, kann der anderen helfen, und umgekehrt. Unbürokratisch, direkt und persönlich.

Positiver Nebeneffekt, den auch Hinterbliebene oft zu schätzen wissen: Die Dinge werden nicht entsorgt, werden gewertschätzt und von jemandem genutzt. Es macht schon einen Unterschied, wenn die Tochter weiß, dass die vom Vater geliebte Zimmerpflanze in einem anderen Haushalt weiterleben darf oder wenn der Sohn mitbekommt, wie sehr sich Frau Eichhörnchen über den bequemen Sessel freut, in dem die Mutter so gern saß. Wenn Omi Dompfaff in der Seniorenresidenz sitzt und erfährt, dass ihr geliebtes Sofa, für das ihr der Platz fehlt, einer Familie das Leben verschönert hat. Wem es möglich ist, der zahlt auch oft noch kleine Beträge für die Gegenstände, was dann wieder den Personen zu Gute kommt, die ihre Wohnung aufgeben mussten.

Am Ende tut es auch einfach weh, ein ganzes Leben zu entsorgen, nur weil dafür nirgendwo mehr Platz ist.

Was ich mir dabei denke: Gebrauchte Dinge müssen nicht extra für mich produziert werden. Sie sind schon da, brauchen keine neuen Ressourcen. Was also noch gut ist und gereinigt werden kann, verwende ich gern weiter und freue mich, dass mein Leben ein klein wenig nachhaltiger geworden ist, mein ökologischer Fußabdruck ein klein wenig kleiner. Und selbst wenn ich oft noch etwas bezahle für die Dinge (ein Hoch auf die Spülmaschine), ist es letztendlich immer noch günstiger als Neuware.

Nachtrag: Bevor ich diesen Text veröffentlicht habe, habe ich ihn meiner Mutter zu Lesen gegeben, immerhin geht es um sie. Sie erinnerte mich daran, dass ich den besondersten und emotionalsten Fall von „ein neues Zuhause gefunden“ noch gar nicht aufgeschrieben habe: Eine Katze! Frau Waschbär bestand monatelang darauf, aus der Kurzzeitpflege wieder nach Hause zu kommen, obwohl offensichtlich war, dass sie nicht mehr allein leben konnte. Das große Haus mit den ausladenden Steintreppen, ihre Vergesslichkeit und Gebrechlichkeit, keine gute Kombination. Erst nach einer ganzen Weile wurde klar, warum: Olli. Der dicke, weiße Kater, alles andere als gutmütig und freundlich, sondern eher ein garstiges Tierchen, war ihr so ans Herz gewachsen, dass sie mit dem Gedanken nicht leben konnte, ihn ins Tierheim zu geben. So zog sie also wieder zu ihm nach Hause und als klar wurde, dass sie einfach nicht mehr allein klarkam, ergab sich die Lösung: Olli zog zu einem Teil unserer Familie, der sich schon länger eine Katze wünschte, Frau Waschbär ins betreute Wohnen. Sie bekam immer wieder Fotos von ihrem Katerchen gezeigt und war wahnsinnig glücklich, dass er ein gutes Zuhause gefunden hatte. So konnte sie sich wohlfühlen im betreuten Wohnen und Olli konnte die neue Gegend unsicher machen. Er hat mittlerweile ein stolzes Alter erreicht, frisst sich durch die Nachbarschaft und ist garstig wie eh und je, aber geliebt wird er trotzdem.

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